Skulptur ist die Kunst der Buckel und Höhlungen,
die Kunst, die Formen im Spiel von Licht und Schatten darzustellen.
Auguste Rodin
Katharina Mörth ist eine Bildhauerin mit Leidenschaft und formt bis zu lebensgroße Skulpturen in
Metall, Holz und Stein. Die Künstlerin arbeitet intuitiv, fühlt sich in ihr Material ein und entwickelte in den
vielen Jahren ihrer Tätigkeit eine eingeständige Formensprache mit anthropomorphen und vegetativen
Anklängen. Hat sie als Frau dabei eine andere Arbeitsweise und Sensibilität als ein Mann? Vermutlich
ja. Sind die Skulpturen deshalb weniger kraftvoll, wurde dem Material weniger an Spannung und
Aussagekraft abgetrotzt? Nein, im Gegenteil. Es ist beeindruckend, welch harte Materialien und große
Volumina die Künstlerin mit vollem Körpereinsatz zu bearbeiten im Stande ist, ohne dass man diese
Kraftanstrengung den fertigen Arbeiten ansehen würde. Mit geschwungenen Linien und glatten
Oberflächen, mit kokonähnlichen Gebilden, netzartigen Strukturen und organischen, gen Himmel
strebenden Verästelungen formt Mörth den Werkstoff nach ihren Vorstellungen und Wünschen. Das
Schaffen kreist um die Dinglichkeit und Körperlichkeit des Materials – ein Ausloten der Grenzen, ein
Ergründen, was für eine Kraft, was für ein Ausdruck in ihm verborgen liegen kann. „Dabei geht es mir
nicht um Effizienz der bildhauerischen Technik“, betont die Künstlerin, „sondern vielmehr darum, den
direkten Widerstand des Materials zu spüren und Formen als Ausdruck meiner Gedanken zu finden.“
Doch ist das alles noch zeitgemäß? Hat diese traditionelle künstlerische Praxis in unserer
multimedialen Welt noch Gültigkeit?
Wenn in der postmodernen Kunstpraxis von Skulpturen die Rede ist, scheint oft ungeklärt, was
darunter genau verstanden wird. Der traditionelle Gattungsbegriff bezeichnet ein körperbildendes Werk
mit den spezifischen Merkmalen der Dreidimensionalität, der Positionierung im Raum und der
haptischen Erfahrbarkeit. Doch im 20. Jahrhundert wird der Skulpturenbegriff von künstlerischer Seite
aufgebrochen und entscheidend erweitert. War die Skulptur Jahrhunderte lang Abbild der Anatomie des
Menschen, so wendet sie sich am Beginn des 20. Jahrhunderts vom Prinzip des Figuralen ab. In dieser
Zeit beginnt einerseits der Prozess der Abstraktion, eine Vertreibung und Zertrümmerung der
Gegenstandswelt, andererseits ein Vergegenständlichen der Skulptur. Man denke nur an die
sogenannten „Readymades“, gewöhnliche Objekte und industriell gefertigte Gebrauchsgegenstände,
die in die Kunst übergeführt und zu Skulpturen erklärt wurden. Die in den 1960er und 1970er Jahren
eingesetzte Erweiterung des Skulpturenbegriffes durch Joseph Beuys und Fluxus, aber auch durch
Konzeptkunst, Minimal Art und Arte Povera schuf grundlegend veränderte, zum Teil völlig neue
Voraussetzungen und brachte eine vielfältige Öffnung in der Auswahl der Materialien und
Darstellungsformen. Künstler*innen experimentieren jetzt mit unterschiedlichen Material- und
Aggregatzuständen. Sie beginnen, den traditionellen Skulpturenbegriff um die zeitliche Dimension zu
erweitern, sich für das Sichtbarmachen des künstlerischen Prozesses sowie die dabei wirkenden
Energien zu interessieren. Sie entwickeln raumgreifende, multimediale Installationen oder laden das
Publikum durch Anweisungen zur Partizipation ein. Bisweilen werden erst mit der Bedienung der
Objekte diese zu Kunstwerken. Damit verbunden ist eine Reflexion über die künstlerischen
Möglichkeiten des autonomen skulpturalen Werkes. Die Grenzen zwischen Skulptur, Aktion und
Performance verschwimmen. Eine Skulptur kann auch eine rein sprachliche Äußerung sein, ein Text
oder eine Anweisung, ein Fotodokument, eine soziale Plastik. (1)
Haben die „klassische“ Metallplastik und Steinskulptur somit ausgedient? Wenig überraschend wird
diese Frage – nicht nur in Hinblick auf Mörths Arbeit – mit einem Nein beantwortet. Der kunsthistorische
Aufriss darf nicht als rein lineare Entwicklungsgeschichte gelesen werden. Die Erweiterung der
künstlerischen Techniken und Ausdrucksformen muss nicht auf Kosten der herkömmlichen und
bewährten Medien, Materialien und Themen gehen. Ähnlich wie in der Malerei, deren Zeitmäßigkeit
und Modernität in regelmäßigen Abständen hinterfragt und die als klassische Gattung der bildenden
Kunst gegenüber den neuen Medien gern als überholt und antiquiert dargestellt wird, gilt auch die
traditionelle Skulptur, was auch immer man darunter verstehen mag, bisweilen als veraltet. Alles
scheint erprobt, alles gesagt und erzählt worden zu sein. Und doch ist, neben der steten Erweiterung
und Neudefinition des Skulpturenbegriffes, gerade auch heute, in einer so schnelllebigen und oft
virtuellen Gegenwart, die Sehnsucht nach einer (figurativen) Skulptur aus Bronze, Marmor oder Holz
ungebrochen. Die Sehnsucht der Künstlerin oder des Künstlers, sich unmittelbar und analog, körperlich
und durch die Kraft der bloßen Hände mit Materie und Form auseinanderzusetzen und Körperbilder zu
erschaffen, aber auch die Sehnsucht der Betrachterin oder des Betrachters, die Sinnlichkeit und Haptik
des Objekts zu spüren, sich am figurativen Gegenstand existenzielle Fragen der Körperlichkeit und des
Seins zu stellen. Künstler*innen wie Mörth widersetzen sich dem Zeitgeist. Sie verleihen der
Bildhauerei neue, starke Impulse. Dabei kann sich die Skulptur auf ihre ureigensten Stärken berufen,
die seit Menschengedenken bestehende, unmittelbare Auseinandersetzung mit Materie, Form und
Sein, und gleichzeitig in Dialog mit dem Hier und Jetzt treten. (2)
Die Arbeiten von Mörth sind traditionsbewusst und gegenwärtig zugleich. Das Erfinden und Gestalten
einer Körperform, das Herausschälen einer Idee aus der harten, unförmigen Materie ist ein zentraler
künstlerischer Gedanke. Doch mehr als die so entstehende Form scheint immer wieder auch das
Dazwischenliegende, die Auslassung von Bedeutung zu sein. Viele von Mörths Skulpturen erinnern an
einen Kokon, dem Schutzpanzer von Tieren wie Schmetterlingen oder Spinnen. Das mittels eines
Sekretes hergestellte Gehäuse dient dem Schutz von Eiern oder Jugendformen. Doch die
bildhauerische Hülle ist bei Mörths Objekten nie in sich geschlossen, sondern stets durchlässig und
atmend. In das rostige Stahlblech schneidet die Künstlerin runde, viereckige, längliche Löcher oder
ornamentale Muster. Mit einem Leuchtkörper von innen beschienen, werden faszinierende Licht-
Schatten-Zeichnungen an die Wand geworfen. Aus gusseisernen Gitterrosten alter Gasherde formt sie
ein filigranes eiförmiges Gebilde. Aus Hölzern wie Eiche, Lärche, Eukalyptus oder Zeder schnitzt sie
liegende wie stehende Volumina von urtümlicher Kraft. Aus Sand- und Kalkstein, Marmor und Granit
schlägt sie wundersame Körperformen von filigraner Schönheit. Besonders in der Steinbearbeitung
geht Mörth an die Grenzen des Materials, auch ein Zerbrechen in Kauf nehmend, und spielt bewusst
mit dem Kontrast zwischen hart massiver Materie und zart organischer Form. Inspiration findet sie in
Naturformen, in gesammelten Muschelfragmenten am Meer, in Fruchthülsen oder Ästen, Disteln oder
Kakteen. Rasch löst sie sich von den Vorlagen, lässt sich treiben, sodass in einer Metamorphose eine
neue Form entsteht und die ursprüngliche nicht mehr erkennbar ist, wohl aber spürbar bleibt. Dabei
erinnern Mörths Werke, egal ob in Metall, Holz oder Stein, immer wieder an archaisch anmutende
Urformen oder gar geheimnisvolle Kultgegenstände, die uns ob ihrer Funktion und Bedeutung vor
unlösbare Fragen stellen, auch da sie ein Berühren, einen unmittelbaren, haptischen Dialog geradezu
herausfordern.
Ähnlich der künstlerischen Positionen von Josef Bauer oder Franz West, hebt Mörth die strikte
Trennung von Kunstobjekt und Betrachter*in auf und ermöglicht eine Interaktion des menschlichen
Körpers mit dem bildhauerischen Objekt sowie die physische Benutzbarkeit des Kunstwerks. Dadurch
ist es den Benutzer*innen möglich, einen anderen Blickwinkel einzunehmen, „sie können das Material
spüren, Kunst unmittelbar erfahren“. Bereits seit 2005 gestaltet Mörth tragbare Objekte, mit denen sie
auch selbst immer wieder interagiert. In einem performativen Akt schlüpft sie in den erwähnten Kokon
aus Industrieabfällen, den sie inmitten der Straßenbahnremise Stammersdorf aufgestellt hat. Die
Grenze zwischen privatem und öffentlichem (Lebens-)Raum ist durchlässig, der nackte,
zusammengekauerte Mensch dem industriellen Umfeld schutzlos ausgeliefert und gleichzeitig durch
das einförmige Gebilde abgeschirmt. Oder bietet diese zweite Haut gar keinen Schutz, sondern engt
den Körper in seiner Freiheit noch weiter ein?
Kulturgeschichtlich wird die Haut als schützende, bergende, aber auch als verbergende und
täuschende Hülle imaginiert. Sie dient der Abgrenzung, ist die Grenze zwischen Mensch (das Innen)
und Umraum (das Außen). Sie verdeckt und verhüllt, kann aber auch aufgerissen und verletzt werden.
Einmal liegt das Authentische unter der Haut, im Leib verborgen und entzieht sich so dem Blick. Die
Haut ist demnach anders als das Selbst und ihm gegenüber fremd und äußerlich gedacht. Dann wieder
ist die Haut mit dem Subjekt, der Person gleich. Die „Essenz“ liegt nicht unter der Haut, im Innern
verborgen, sondern ist die Haut, die für den ganzen Menschen steht. Daran geknüpft sind zwei
grundlegende Arten, die Haut zu betrachten, die die zwei heute noch vorherrschenden konträren
Modelle des Leib-Seele-Verhältnisses repräsentieren: Die Haut als Hülle und die Haut als Ich. Die Haut
als Wohnung oder Haus, als umhüllende Schicht, in der verborgen sich das Subjekt befindet, steht in
diametralem Gegensatz zur Haut als empfundener Grenze, die durch Sinneswahrnehmungen wie
Schmerz oder Lust erfahrbar wird, als Organ der Welterschließung, aber zugleich auch als Gefängnis.
(3) Die Haut in Mörths Arbeiten ist losgelöst von Mensch und Umwelt und geht doch eine Verbindung
mit ihnen ein. Zum Selbstschutz legen wir uns oft einen Panzer an, so die Künstlerin, gleichzeitig sei
dieser von unserer Umgebung mitbestimmt und ein Korsett der Gesellschaft, wie etwa die Trends in der
Mode. Mit Augenzwinkern hat Mörth vor einigen Jahren eine Kollektion aus tragbaren Metallobjekten
geschaffen, die bei einer Modenschau-Performance auch vorgeführt wurden – skurrile und
futuristische, beengende und ausladende Körperbedeckungen, die über die Funktion von Kleidung
reflektieren und zum Nachdenken anregen.
Mörths künstlerisches Schaffen ist äußerst vielfältig, sie arbeitet auch als Malerin, Zeichnerin und
Fotografin. Fotografien von in Leintüchern gehüllter Menschen sind der Ausgangspunkt für die
Entwicklung ihrer skulpturalen Kokons. Die Fotografie dient hier weniger als abbildendes Medium, denn
als abstrahierendes. Daneben entstehen auch eingeständige fotografische Arbeiten: Bilder von
Menschen, sitzend oder liegend, nackt oder verhüllt, mit darüber gelegten Siebdrucken in matt roten
wie blauen Tönen. In vielen Fotografien arbeitet die Künstlerin bewusst mit Unschärfen und
Verzerrungen, um die Betonung auf Farbe und Fläche zu legen, wodurch die Bilder an abstrakte
Malereien erinnern. Es ist nicht verwunderlich, dass diese auch als Arbeitsmedium und Inspiration für
malerische Experimente dienen. Sinnlich und farbintensiv sind die Leuchtkästen, bei denen abstrahierte
fotografische Motive mit zart figurativen Zeichnungen kombiniert oder neuerdings mit kleinen
Skulpturen verformt werden. Naturstudien verschwimmen etwa mit Lichtern eines nächtlichen
Parkplatzes zu bunten Farbwolken, die auf Transparentpapier gezeichneten Tiere und Pflanzen
erinnern an japanische Holzschnitte. Ein spannungsvoller Dialog von unterschiedlichen Medien, von
Line und Fläche, von Zwei- und Dreidimensionalität, von Licht und Schatten. Bilder mit hoher sinnlicher
Suggestion und geradezu auratischer Wirkung.
„Kunst heißt für mich Auseinandersetzung, Prozess, Einfühlung und manchmal Kampf“, betont Mörth.
Sie ist eine Künstlerin, die ihre Medien kennt und handwerklich zu beherrschen weiß, die sich nicht mit
dem Bestehenden zufriedengibt, sondern immer wieder Grenzen auslotet – des Darstellbaren wie des
Materials. Sie ist eine Bildhauerin, die sich an Körper, Haut und Umraum, am Innen und Außen
abarbeitet und im Kokon ihr stärkstes Motiv gefunden hat, als Sinnbild für Schutz und Verwandlung,
aber auch für Einengung oder Einsamkeit. Sie ist eine Fotografin, Malerin und Zeichnerin, die in
faszinierenden Leuchtobjekten durch Schichtung und Struktur verschiedene Medien ineinander
verschwimmen lässt. So entsteht eine Oeuvre, in dem es wahrlich viel zu entdecken gibt. Man muss
sich nur darauf einlassen.
Günther Oberhollenzer
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1 Vgl. Peter Waibel, Die Skulptur im 20. Jahrhundert. Zwischen Abstraktion, Gegenstand und Handlung, in:
Österreichischer Skulpturenpark Privatstiftung (Hg.), Garten der Kunst. Österreichischer Skulpturenpark, Ostfilden 2006,
S.13-26.
2 In letzter Zeit ist in der Kunstszene wieder eine etwas stärkere Auseinandersetzung mit der bildhaurischen Figur als
Körper im Raum zu beobachten ist, und neben den neuen, experimentell eingesetzten Arbeitsmitteln und
Ausdrucksformen finden sich nach wie vor Materialien wie Bronze, Marmor oder Holz.
3 Siehe dazu Claudia Benthien, Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reibeck bei Hamburg, 2001
(2. Auflage), S. 27-48.