Dr. Anna Spohn

Grenzen ohne Grenze : Katharina Mörth

Um die Dinge um uns unterscheiden zu können, müssen wir Grenzen zwischen ihnen
ziehen. Jede Bestimmung, jede Begrenzung, so meinte schon Spinoza, ist zugleich eine
Negation. Für sich allein kann eine Sache nicht definiert werden. Eine Unterscheidung
kann nur durch eine Trennung zu etwas Anderem getroffen werden, durch eine Praxis
der Grenze. Das gilt auch für das Individuum, denn die Erkenntnis, dass „ich bin“ zieht
mit sich, dass „ich nicht du bin“. Ein „Ich“ entsteht aus der Erfahrung eines Anderen.
Grenzen sind notwendig, denn nur innerhalb von Grenzen ist Freiheit überhaupt
möglich. Und dennoch unterliegt diese Freiheit Beschränkungen. Denken hängt von
begrifflichen Bestimmungen und Kategorisierungen ab. Worte wiederum legen das
Gedachte innerhalb dieser Definitionen fest und beschränken es. Auch eine physische
Grenze, zum Beispiel ein Zimmer, schafft einen Möglichkeitsraum, und zugleich
beschränkt dieser Raum die Bewegungsfreiheit. Wie bei einer Raupe, die sich nur in
einem Kokon entwickeln kann und sich doch eines Tages daraus befreien muss, sollten
Grenzen aber durchlässig sein und immer wieder umgestoßen werden können.

Katharina Mörths Arbeit ist eine Praxis der Grenze und zugleich eine Reflexion der
Ambivalenz des Begrenzens. Offensichtlich wird das für die BetrachterInnen in ihren
frühen Arbeiten, den Kokons. Starre und starke Grenzen aus Stahlblech trennen hier ein
Innen von einem Außen. Diese Grenzen sind jedoch durchlässig, sodass nicht einfach das
Innere hermetisch abgeriegelt ist, sondern beide Bereiche aufeinander Bezug nehmen.
Das Stahlblech definiert die organische Form der Skulptur, während seine
Durchbrechungen sie zum abgeschlossenen Raum innerhalb der Form hin öffnen. Dass
dieses einsame Innere auch ein tröstlicher Ort sein kann, wird im Kontrast zu einer
erweiterten Serie von Kokons deutlich. Mörth verwandelt die Skulpturen zu
Lichtobjekten und beleuchtet das Innere hell, sodass die Grenzdurchbrechungen ein
Strahlen nach Außen ermöglichen und die Grenze selbst als Licht- und Schattenspiel an
die Wand projiziert wird.

Die Kokons sind jedoch nicht nur für die BetrachterInnen eine Erfahrung der Grenze.
Auch ihre Herstellung ist ein Grenzgang. Katharina Mörth zwingt dabei in einem
physischen Kraftakt das industriell gefertigte flache Stahlblech mit Hammer und Zange
in die organische Form der Skulpturen. Nur durch eine vorherige Durchbrechung, durch

vorheriges Einstanzen der Lochstruktur in den drei Millimeter dicken Stahl ist es
überhaupt möglich, die einzelnen Teile unter Spannung zu einem Ganzen
zusammenzuschweißen.

Eine Fortführung der Kokons sind Mörths tragbare Objekte. Diese nun
anthropomorphen Hüllen und rüstungsähnlichen Kleidungsstücke zeigen nicht nur die
Differenz zwischen einem Innen und einem Außen. Sie sind tatsächlich tragbar und
begehbar. Ebenfalls aus Stahl, sind diese Kokons offener und fragiler und werden zu
einer Art Schutz oder Rüstung, zu einer Hilfsgrenze des Körpers nach außen, die aber
auch abgelegt werden kann. Ihre Entstehung geht einen anderen Weg. Es ist kein
undurchlässiges Gebilde mehr, das erst durchbrochen wird. Es sind einzelne Teile, die
aneinandergeschweißt eine fragile Begrenzung bilden.

In diesen frühen Arbeiten sind die richtungsweisenden praktischen, materiellen und
thematischen Entscheidungen für Katharina Mörths Gesamtwerk getroffen. Es bleibt
auch in ihren späteren Arbeiten eine Grundidee erhalten, die man unter dem Begriff der
Grenze subsumieren kann. Nicht nur in ihren Stahlarbeiten, sondern auch in anderen
Medien, in Holz oder Stein, geht es um die Grenze des Materials, um den schmalen Grat
zwischen Belastbarkeit und Formbarkeit. Sie trennt dabei nicht zwischen Material,
Gestalt und Thematik. Ob aus Stein gehauen, in Holz mit der Kettensäge gefräst oder aus
Stahl zusammengeschweißt, die physische Umsetzung ist immer Teil der Form. Sie ist
selbst das Ergebnis der Grenzen des Materials wie auch Mörths physischer Kraft. So
wird ein Holzstamm ausgehöhlt und in eine Art durchbrochenen Kokon verwandelt, der
sich in einem gerade noch stabilen Zustand befindet. Massiver Stein wird zum filigranen
Objekt, zu einer dünnen Begrenzung. Diese groß dimensionierten Skulpturen sind das
Ergebnis einer sehr spezifischen Arbeitssituation. Sie entstehen mehrheitlich unter
freiem Himmel im Rahmen von Symposien.

Ihr breites Spektrum an Techniken hat sich Katharina Mörth sowohl in ihrer Ausbildung
zur Holzbildhauerin in München als auch in ihrem Studium der Malerei und Grafik an
der Universität für angewandte Kunst in Wien angeeignet. Neben ihrem skulpturalen
Hauptwerk entstehen auch zweidimensionale Arbeiten. Waren es zu Beginn
hauptsächlich Malereien, wendet sie heute beispielsweise Siebdruck und fotografische
Techniken an. Auch in diesen Serien ist die materielle Umsetzung, die Technik,

immanenter Teil der Idee. Es sind Materialexperimente, die sich an der Grenze zwischen
Verbergen und Darstellen bewegen. In ihrer Serie Menschenhüllen aus dem Jahr 2017 legt Mörth die
Technik des Tiefziehens auf die Fotografie um. Hier wird die Bildoberfläche, eigentlich
eine klare Raumgrenze, die die Tiefe nur im Illusionistischen zulässt, einerseits durch
Transparenz, andererseits durch das Verformen der Oberfläche mittels modellierter
Kleinskulpturen und ihrer Negativformen aufgelöst. Es entstehen Fotografie-Reliefs, die
von hinten beleuchtet den BetrachterInnen vor Augen führen, dass Oberflächen,
Grenzen und Trennungen relativ sind. Sie sind etwas, das nie starr sein kann, sondern
stets neu gesetzt wird und immer aufs Neue verhandelt werden muss.

 

Dr. Anna Spohn